Psychiatischer Notfall: Suizidandrohung in Schule

Hier könnt ihr erlebte Einsätze schildern und sie können von uns gemeinsam besprochen werden.

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02.06.2010, 13:24
Einsatz

Der Schulsanitätsdienst und die Schulleitung einer beruflichen Schule werden am an einem Junitag im Jahr 2008 um 12.20 Uhr per Rundsprechanlage alarmiert.

Das diensthabende Team besteht aus einem Sanitäter im Einsatzdienst und einem Altenpflegehelfer und übernimmt den Einsatz um 12.22 Uhr.

Nachdem die Schulsanitäter zunächst ohne Alarmstichwort ins Sekretariat beordert wurden, erhalten sie von der Verwaltungsfachangestellten das Einsatzstichwort "Schülerin droht sich zu erschießen".

Die Schülerin wurde von ihrer Klassenlehrerin, zu der sie Vertrauen gefasst hatte, bereits in einen Nebenraum des Lehrerzimmers verbracht und dort betreut. Schulsanitätsdienst, Schulsozialpädagogin und Schulleitung wurden nun hinzugezogen, um weitere Schritte abzustimmen, der SSD sollte sich in Bereitstellung für eine möglicherweise notwendig werdende medizinische Versorgung begeben.

Da zunächst unklar war, ob die Schülerin tatsächlich bewaffnet ist, wurde die Polizei frühzeitig mitalarmiert.

Es stellte sich zum Glück jedoch zügig heraus, dass die Schülerin keine Waffe mit in die Schule gebracht hatte.

Die 1991 geborene Schülerin äußerte mehrfach gegenüber verschiedenen Personen ihre Absicht, sich wegen akuter familiärer und schulischer Probleme und beruflicher Aussichtslosigkeit zu suizidieren.

Diese Absichten wurden durch die herbeigerufenen Schulsozialpädagogin und die Lehrkraft als durchaus ernst gemeint eingestuft.

Aufgrund der akuten Eigen- und Fremdgefährdung empfiehlt das diensthabene Team die Alarmierung des Rettungsdienstes und des Amtsarztes des Gesundheitsamtes zwecks Durchführung einer Zwangseinweisung nach PsychKG in die geschlossene Akutpsychiatrie.

Die Alarmierung erfolgt gegen 12.50 Uhr mit der Bitte, ohne Sondersignal anzufahren, um die Patientin nicht zu beunruhigen, und außerhalb der Sichtmöglichkeiten der Patientin zu halten.

In der Zwischenzeit konnte die Patientin durch die betreuende Lehrkraft und Sozialpädagogin sogar überzeugt werden, sich freiwillig in psychiatrische Akutbehandlung zu begeben.

Die Patientin wird um 13.00 Uhr an den Rettungsdienst zum Transport in die geschlossene Kinder- und Jugendpsychiatrie übergeben.

Allen Beteiligten sei an dieser Stelle für die gute, reibungslose Zusammenarbeit gedankt.


Diskussion

Hier zeigt sich, dass ein Schulsanitätsdienst für eine breite Palette von Notfällen, auch psychischer Natur, gerüstet sein muss.

Grundkenntnisse über den Umgang mit psychisch Kranken sowie über unterschiedliche psychiatrische Notfallbilder müssen ebenso vorhanden sein, wie Grundkenntnisse über den Alarmierungsablauf bei Zwangseinweisungen.

Der SSD hatte hier keine direkten Kontakt mit der Patientin, was gut ist, da sie bereits zu den betreuenden Personen Vertrauen gefasst hatte. Eine unnötig hohe Anzahl an (Einsatz-)Kräften sollte in einem solchen Fallen vermieden werden, da das die Notfallbetroffenen zusätzlich verängstigen könnte.

Der SSD wurde hier in erster Linie als "Fachberater" für das weitere Vorgehen eingesetzt.

Traurig stimmt die Aussichtslosigkeit der Notfallbetroffenen, die im Rahmen des "Übergangssystems" an der Schule war. Sie verfügte über keinen Schulabschluss und unterlag, da sie noch nicht 18 Jahre alt war, der Berufsschulpflicht.
Für solche SchülerInnen werden sog. "Maßnahmenklassen" eingerichtet, die die SchülerInnen "ausbildungsfähig" machen sollen. Bei erfolgreicher Absolvierung kann ein dem Hauptschullabschluss entsprechender Abschluss vergeben werden.

Aufgrund ihrer schulischen Probleme war das Erreichen dieses Ziels bei der Patientin jedoch zunehmend aussichtslos. Das wurde der Schülerin bewusst. Hinzu kam ein fehlender familiärer Rückhalt und Beziehungsprobleme.

Als besonders segensreich hat sich in diesem Zusammenhang die Schaffung einer Stelle für eine Sozialpädagogin an der Schule erwiesen, die durch Gespräche mit gefährdeten SchülerInnen oft rechtzeitig intervenieren bzw. bei Akutfällen sofort die Betreuung übernehmen kann.

Der Eigenschutz der Einsatzkräfte ist in solchen Situationen oberstes Gebot. Im Zweifelsfall muss, wie hier geschehen, frühzeitig die Polizei hinzugezogen werden. HelferInnen dürfen sich nie selbst in Gefahr begeben, insbesondere dann nicht, wenn eine Bewaffnung des psychiatrischen Patienten nicht ausgeschlossen werden kann.
35 Jahre, Im-RTW-beim-Patienten-Sitzer, hauptamtlicher "Zivi"-in-den-Hintern-Treter, ehrenamtl. Löschknecht, Obermufti von einigen SSDs -- im schönsten Bundesland der Welt: Schleswig-Holstein!

02.06.2010, 13:37
Interessanter Fall, der ähnlich bei uns an der Schule auch schon vorkam.

Einige Anmerkungen von meiner Seite:
Grundkenntnisse über den Alarmierungsablauf bei Zwangseinweisungen.

Sorry, aber da muss ich entschlossen widersprechen! Kein Schulsanitäter sollte bzw. muss im Rahmen der Ausbildung darauf vorbereitet werden, wie und in welcher Form eine Zwangseinweisung durchgeführt wird.
In diesem Fall sollte es reichen (wie bei uns auch geschehen), einen Notruf bei der Leitstelle abzusetzen, die sich mit der Materie besser auskennen. Diese sind auch in der Lage, die Situation gut einzuschätzen und das weitere Vorgehen (evtl. halt nach PsychKG) durchzuführen.

Der SSD wurde hier in erster Linie als "Fachberater" für das weitere Vorgehen eingesetzt.

Dass der SSD als "Fachberater" vor Ort ist, finde ich zwar gut, allerdings wage ich zu bezweifeln, dass ein normaler Schulsani mit dieser Situation fachgerecht umgehen kann.
Insofern: Schöner Gedanke, aber viel mehr als den RD holen, kann ein durchschnittlicher Schulsani in dieser Situation auch nicht.

Im Übrigen: Wenn bereits (frühzeitig) die Polizei alarmiert wurde, sollte durch diese auch alles weitere organisiert werden. Dass der Rettungsdienst bei einem solchen Fall mitkommt, sollte (!) selbstverständlich sein!

02.06.2010, 13:42
Original von Tone Bone
Kein Schulsanitäter sollte bzw. muss im Rahmen der Ausbildung darauf vorbereitet werden, wie und in welcher Form eine Zwangseinweisung durchgeführt wird.


Da hast du natürlich Recht. Wichtig ist es in erster Linie, die Rettungsleitstelle zu verständigen, die entsprechende Maßnahmen dann schon in die Wege leitet.

Trotzdem schaden Kenntnisse über das Verfahren bei PsychKG-Einweisungen bestimmt nicht, auch wenn sie regional unterschiedlich sein können.

Es zeigt sich, dass die Ausbildung über psy. Notfälle und im Umgang mit psychiatrischen Notfallpatienten verbessert werden muss, diese wird bei den Sanitätslehrgängen leider oft aus Zeitmangel vernachlässigt.
35 Jahre, Im-RTW-beim-Patienten-Sitzer, hauptamtlicher "Zivi"-in-den-Hintern-Treter, ehrenamtl. Löschknecht, Obermufti von einigen SSDs -- im schönsten Bundesland der Welt: Schleswig-Holstein!

02.06.2010, 14:42
Also zum einen muss ich sagen, dass ich es für schwierig halte das Thema "Psychiatrische Notfälle" in einer Sanitätsausbildung zu unterrichten. Die Diagnose einer solchen Erkrankung dauert doch selbst bei Profis zum Teil länger.

Meiner Meinung nach gelten doch auch bei psychiatrischen Notfällen die gleichen Grundregeln wie bei anderen auch:
- Eigenschutz
- aktiv zuhören
- nicht versuchen Dinge ein-/ auszureden
- Ernst nehmen
- da sein
...meint die Bine
RS, Ausbilderin EH, SanKurs, AED und Praxisanleiterin
Studentin (Bio und Chemie auf Lehramt)

02.06.2010, 15:01
Ich bin ebenfalls der Meinung, dass dieses Thema in der Sanitätsausbildung auch richtig und gewissenhaft gelehrt und nicht vernachlässigt werden soll.

Auch in meiner Notfallhelfer Ausbildung beschäftigte sich ein Unterrichtsblock mit psych. Notfällen. Klar, es ist ein, ich sag jetzt mal, "schwieriges" Thema, jedoch ist ein psychiatrischer Notfall auch ein Notfall.


Original von Bine:
- Eigenschutz
- aktiv zuhören
- nicht versuchen Dinge ein-/ auszureden
- Ernst nehmen
- da sein


Das sind eigentlich die selben Maßnahmen, die wir auch in der NH Ausbildung gelernt haben.
Zuletzt geändert von Thorbi 110 am 03.06.2010, 13:15, insgesamt 3-mal geändert.
14 Jahre; Ausbildung: Notfallhelfer; Leiter SSanD von Saniseite aus; Teamführer 1. SSD Team; Materialwart; Mitglied bei der JF der Stadt Grafin bei München und der MHD Jugend Ebersberg

02.06.2010, 15:08
Kleiner Einschub zu diesem Thema:

Bei uns ist seit längerer Zeit ein Block zum Thema "psychiatrische Notfälle/Gesprächsführung" in die Schulsani-Ausbildung integriert, der über ein verlängertes Wochenende (Mi-So) im Rahmen der Sani-Ausbildung gehalten wird. Dort sollen genau diese Themen angesprochen und die Sanis hierfür sensibilisiert werden, zeitgleich aber auch eine kleine Einführung in die Materie erhalten.
Außerdem wird zeitgleich ein "Aufbaukurs" gehalten, um das Wissen weiter zu vertiefen (für Schulsanis, die den ersten Kurs bereits besucht haben).

Halte ich für sehr wertvoll, auch wenns zwischenzeitlich mal etwas trocken und tiefgründig sein kann. Aber was man da lernt bzw. gelernt hat, will ich nicht missen!
Angewendet wurde das Gelernte sowohl bereits im privaten Umfeld als auch im Krankenhaus bzw. Rettungsdienst/Krankentransport...

Klar ist, dass solch eine Ausbildung für alle Schulsanitätsdienste derzeit nicht möglich ist, da einfach das Ausbildungspersonal fehlt. Aber wer die Chance hat, der sollte sie wahrnehmen!

02.06.2010, 15:19
Auch wenn das jetzt evtl. ein bisschen offtopic geht: Was wird denn bei euch in dieser "psychiatrischen Einheit" gelehrt/ gelernt? Nur damit wir jetzt nicht aneinander vorbeireden.
...meint die Bine
RS, Ausbilderin EH, SanKurs, AED und Praxisanleiterin
Studentin (Bio und Chemie auf Lehramt)

02.06.2010, 15:24
Da dies ein möglicher Lösungsansatz sein könnte, um eine gewisse "Routine/Grunderfahrung" reinzubringen, ist das vermutlich ganz angemessen, hier darüber zu reden.

Inhaltlich lässt sich diese erste Einheit mit einem PSU/PSNV-Lehrgang vergleichen, die v.a. einen hohen Praxisbezug durch das Durchspielen verschiedener Situationen hat.
Der "Aufbaulehrgang" vertieft die angesprochenen Themen und geht auch an "heiklere" Themen wie Suizidgedanken etc. heran. Auch in diesem Teil liegt ein besonderer Schwerpunkt auf praktischer Ausbildung.

02.06.2010, 15:32
Was ist ein PSU/ PSNV-Lehrgang? Ist sowas ansteckend?

02.06.2010, 15:34
Nennt sich Psychosoziale Unterstützung bzw. Psychosoziale Notfallversorung.

Diese Lehrgänge werden im Rahmen des Betreuungsdienstes (KatS) angeboten...

02.06.2010, 15:56
Frage: Tone Boone, gibts das generell beim MHD für die Schulsanis oder sprichst du explizit vom Cojobo? Weil mich würde das brennend interessieren dieser Lehrgang.

Und zum eigentlichen Thema, meine Rede... Mir glaubt ja bei uns kein Schwein wenn ich versuche begreiflich zu machen das auch Betreuen ansich (zusätzlich zu den Psychatrischen Notfallbildern) sehr wichtig ist und geübt werden muss. Als ich das des letzte Mal erwähnte, kam nur "Wir haben hier ja eh keine Schwerverletzten"
Zuletzt geändert von sternenkind am 02.06.2010, 15:58, insgesamt 1-mal geändert.

02.06.2010, 15:58
Schon die alte AV 2 ("Sanitätshelfer", 24 Std.) der Malteser beinhaltete psychiatrische Notfälle. Zu behandeln waren Depression, Manie, Selbsttötungsversuch, Psychose, Wahnvorstellungen und Entzugssyndrom.

Zwei Stunden sollen meiner Meinung nach in jedem Sanitätslehrgang für psych. Notfälle vorgesehen werden.

Auch auf regulären Sanitätsdiensten kann man immer damit konfrontiert werden...
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02.06.2010, 15:58
Die PSU-/PSNV-Lehrgänge werden grundsätzlich von verschiedenen Rettungsdienst-/KatS-Schulen angeboten.

Der spezifische Lehrgang, den ich vorher erläutert habe, ist eine interne Ausbildung, die ich auch bisher nirgendwo anders in dieser Form gefunden hab.
Das mag zu einem großen Teil aber auch sicher an der bereits vorhandenen "Infrastruktur" liegen.

02.06.2010, 16:06
Original von Hajo Behrendt
Zu behandeln waren Depression, Manie, Selbsttötungsversuch, Psychose, Wahnvorstellungen und Entzugssyndrom.

Aha. Und wie lange soll der Sani denn nun eine Depression, eine Manie oder eine Psychose behandeln, bis der Regelrettungsdienst eintrifft? Mal im Ernst - es geht nur darum, einen Menschen so lange verbal zu beschäftigen, bis der Rettungsdienst/Notarzt oder die Polizei mit dem Taser da ist. Dafür reicht es aus, ein wenig gesunden Menschenverstand zu haben und kein komplettes Ar...loch zu sein.
Es ist Dein Recht, Waffen abzulehnen. Es ist Deine Freiheit, nicht an Gott zu glauben. Aber wenn jemand in Dein Haus einbricht, sind die ersten beiden Dinge, die Du tun wirst: Jemanden mit einer Waffe rufen und beten, dass er rechtzeitig da ist.

02.06.2010, 16:09
bei mir im SanH ist kaum auf dieses Thema eingegangen worden leider... Eigl. bin ich ja bei der JUH nur unser SSD wird jetzt von den Maltesern übernommen.
Ich würde so einen Kurs gerne mal machen

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